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Über das Wahrnehmen...

Veröffentlicht am 17.05.2020

 

Sehtafel aus Stillings Tafeln zur Prüfung des FarbsinnesSehtafel aus Stillings Tafeln zur Prüfung des Farbsinnesund Kleśa als individuelle Konzepte

Das Foto zeigt eine alte Tafel* zur Prüfung des Farbsinns. Die Rot-Grün-Sehschwäche ist eine Farbfehlsichtigkeit und beruht auf einer Anomalie der Netzhaut. Betroffene können Rot und Grün schlecht unterscheiden. Zur Diagnose dient eine Tafel, auf der ein Motiv, meistens eine Zahl, in Rot und Grün gleicher Helligkeit aufgetragen ist. Das Erkennen der Zahl ist nur möglich, wenn die Fähigkeit beide Farben zu unterscheiden, gegeben ist. Ein einfaches Nachfragen reicht nicht aus.  Menschen mit dieser Netzhautanomalie können nicht wissen, dass die meisten Menschen Rot und Grün anders sehen**. In diesem Fall ist eine körperliche Ausstattung der Grund für eine andere Wahrnehmung von Rot und Grün. Erst spezielles Prüfmaterial kann sie aufdecken.  Gibt es auch eine geistigen „Farbfehlsichtigkeit“? Was behindert unsere klare Wahrnehmung bei gut funktionierenden Sinnesorganen? Es ist sicherlich allen klar, dass wir öfter mal mit unserer Einschätzung danebenliegen. Das Yoga Sūtra beschreibt, dass eine falsche Wahrnehmung immer dann vorliegt, wenn das eigentliche Wesen des Wahrgenommenen nicht richtig erfasst wird (YS 1.8).

Wahrnehmungspsychologen wissen heutzutage, dass unsere biologische Grundausstattung so angelegt ist, dass auch subjektive (individuell unterschiedliche) Anteile der Wahrnehmung existieren. *** Die Deutung, Bedeutung und das Verständnis der Sinnesempfindung ist die Variable.  „Das Sinnesorgan täuscht uns dabei nicht, es wirkt in keiner Weise regelwidrig, im Gegenteil, es wirkt nach seinen festen, unabänderlichen Gesetzen und es kann gar nicht anders wirken. Aber wir täuschen uns im Verständnis der Sinnesempfindung.“ (Helmholtz**** 1855/1896). Erfahrungen beeinflussen unsere Wahrnehmung. Eine schlechte Erfahrung an einem Ort zu einer bestimmten Zeit, wird eher dazu führen, in einer ähnlichen Situation Sinneseindrücke, z.B. ein Geräusch oder einen Menschen, als gefährlich einzuordnen. Und das ist, als erster Eindruck, sinnvoll. Erfahrungen und Prägungen führen aber oft zu vorschnellen und falschen Interpretationen, zu Missverständnissen und innerem Leid.

Das Yoga Sūtra des Patañjali verspricht als ein Ergebnis regelmäßigen Yoga-Übens: „Dann stehen die Sinne ganz und gar zu unserer Verfügung“ (YS 2.55). „Eine solche Praxis (also regelmäßiges individuelles Yoga üben, Anm. d. A.) wird jene Kräfte in uns verringern, die Leid verursachen, und damit zu einer klareren Wahrnehmung führen.“(YS 2.2.).

Im Yoga Sūtra des Patañjali (2.15) werden fünf innere Kräfte, die kleśa, genannt: asmitā, ein irrtümliches Verständnis der eigenen Person, rāga, der Drang  angenehmes wiederholen zu wollen, avidyā , das falsches Verstehen, abhiniveśa, die Angst vor dem Tod und eine tiefsitzende Unsicherheit sowie dveṣa, die  unbegründete Abneigung. Die Wahrnehmung ist getrübt, wenn ich z.B. davon ausgehe prinzipiell recht zu haben, meine Fähigkeiten nicht realistisch einschätze oder eine unbegründete Abneigung zum Wahrgenommenen besteht. Sucht oder der Drang angenehme Dinge wiederholen zu wollen, schränken den Blick ein. Falsches Verstehen führt zu weiteren Irrtümern. Es führt  dazu, Vergängliches für ewig zu halten.

 

 Foto des Buchs: Stillings Tafeln zur Prüfung des FarbensinnesFoto des Buchs: Stillings Tafeln zur Prüfung des Farbensinnes*Die Tafel ist aus „Stillings Tafeln zur Prüfung des Farbensinnes“, 17. Auflage, Herausgegeben von Geheimrat Professor Dr. Hertel-Leipzig, Bahnamtliche Ausgabe zusammengestellt von Dr. Seydel-Breslau, 2. Auflage, Georg Thieme Verlag Leipzig

 **Menschen mit Rot- Grün-Farbfehlsichtigkeit haben in der Regel nur bei der Ausübung spezieller Berufe Einschränkungen. Die Tafeln wurden nicht ohne Grund vom Bahnaugenarzt Dr. Seydel zusammengestellt.

***https://www.uni-kiel.de/psychologie/mausfeld/pubs/Mausfeld_Wahrnehmung_2010.pdf Aus diesem Text stammt das oben aufgeführte Helmholtz-Zitat und auch folgendes „…wir können gar nicht anders, als die Außenwelt durch die Brille der uns verfügbaren Grundkonzepte wahrzunehmen. Diese Kategorien stellen eine universelle Form der Welterfahrung dar. In diesem Sinne ist unsere wahrgenommene Welt eine - biologisch zweckmäßige - Konstruktion unseres Geistes.“ Wahrnehmung wird als „inputbasierte Aktivierung interner Konzeptformen“ beschrieben. Wahrgenommenes wird eingeordnet in Konzeptformen z.B. Essen, anderer Mensch, „Meinesgleichen“, Freund, Feind usw. Der Begriff Konzeptform wurde gewählt, da eine Form individuell gefüllt werden kann. Beispielsweise werden Insekten nicht von allen Menschen als Essen wahrgenommen. Die im Yoga Sutra beschriebenen Klesha können aus meiner Sicht als individuelle Anteile bestimmter Konzeptformen (vielleicht mit Ausnahme der Angst vor dem Tod) eingeordnet werden.

****Hermann Ludwig Ferdinand Helmholtz, ab 1883 von Helmholtz, (* 31. August 1821 in Potsdam; † 8. September 1894 in Charlottenburg bei Berlin) war ein deutscher Physiologe und Physiker. Als Universalgelehrter leistete er wichtige Beiträge zur Optik, Akustik, Elektrodynamik, Thermodynamik und Hydrodynamik. Er war einer der einflussreichsten Naturwissenschaftler seiner Zeit…(Wikipedia)